Vereine gehören zur Heimat der Menschen. Sie sind die vielleicht wichtigste Verheimatungsinstanz, so Autor Prof. Hans-Jürgen Schulke im Artikel des DOSB.
In wenigen Wochen findet die Europawahl statt. Sie wird die Weichen stellen für die Entwicklung eines ganzen Kontinents. Dennoch ist unklar, ob das allen Wahlberechtigten so bewusst ist. War schon bei den bisherigen Bürgerentscheiden Wahlmüdigkeit zu konstatieren, so zeigt sich derzeit auch Enttäuschung über die Schwerfälligkeit und Intransparenz vieler Entscheidungen im Europäischen Parlament, ungleiche Verteilung der erwirtschafteten Güter, unklare Haltung gegenüber den Großmächten China, Russland und den USA – der Brexit als Damoklesschwert nicht nur über Großbritannien. Mehr noch, einige Staatenlenker in der EU opponieren demonstrativ gegen Brüssel, gegen Vereinbarungen zur Flüchtlingspolitik, stellen die demokratischen Grundwerte des Bündnisses in Frage.
In ihrer eigenen Bevölkerung finden sie häufig Zustimmung mit Parolen wie Überfremdung, Übervolkung, letztlich Verlust der Heimat. Offensichtlich ist Heimat ein herausragendes, emotional stark besetztes Gut, das es zu verteidigen gilt. Und das die Flüchtigen dieser Welt weder vorweisen noch mitbringen können. Heimat ist offensichtlich mit lokalen Wurzeln und damit sozialer Vertrautheit besetzt. Das wird aus einer aktuellen Umfrage des onlineportals meinestadt deutlich, wonach zwei Drittel der deutschen Bevölkerung ihren Arbeitsplatz nicht mehr als 30 Kilometer von ihrem Wohnort wünschen. Ebenfalls zwei Drittel würden keine oder nur auf 30 Kilometer begrenzt neue, selbst besser bezahlte Arbeit annehmen: „Heimat vor Job“ lautet die Überschrift.
Macht das große global orientierte Europa heimatlos? Treiben transnationale Konzerne Arbeitnehmer zu höherer Mobilität? Lassen Chatbots mit komplexen Algorithmen das Lernen fremder Sprachen überflüssig und damit ein Stück kultureller Identität belanglos werden? Werden Menschen nur noch digitale Spiele der amerikanischen (Microsoft) und chinesischen (Tencent) weltweit agierenden IT-Giganten im Internet statt Skat und Schach spielen? Politische Magazine, Parteien und Theater suchen nach der verschollenen oder einer neuen Heimat. Fast wehmütig sind da Erinnerungen: Gab es da nicht die Idee de Gaulles von einem Europa der Vater(Vorsicht Gender!)länder, heißt es nicht in der Europa-Hymne „Alle Menschen werden Brüder“, genügt nicht für die Verheimatung in Europa – so die Überzeugung des Soziologen Jürgen Habermas – die verfasste und gelebte freiheitlich-demokratische Grundordnung?
Immerhin nominell und staatstragend hat die Große Koalition, inspiriert durch die CSU, das Thema verortet. Seit Frühjahr 2018 gibt es das Bundesministerium für Inneres, Bau und Heimat. Diese erstmals so formulierte Triologie hat manch spöttischen Kommentar hinsichtlich seiner vielleicht rückwärtsgerichteten Beschaulichkeit, dem Fremden und Migration, sprich Äußeres abwehrenden Duktus eingebracht. Hierzu hat Horst Seehofer sich im vergangenen Jahr in der FAZ geäußert. „Heimat“ betrachtet er als Gegenkonzept zu einem kalten Rationalismus, der den Menschen danach beurteilt, was er leistet und nützt. Und dass Traditionen und Kollektive nicht bloß beengend und vormodern sein können, sondern dass sie Konstanz und Verlässlichkeit gerade für jene garantieren, die sich nicht qua Geburt leichthändig durch die Welt bewegen. Dass Bindungen Menschen bisweilen erst in die Lage versetzen, Chancen zu nutzen. Konkretisiert hat das kürzlich der für Heimat zuständige Staatssekretär Kerber mit der Wirtshauskultur in kleineren und mittelgroßen Ortschaften. Sie solle gestärkt werden.
In diesem Ministerium ist – im Titel ungenannt und ohne nur dafür ausgewiesenen Staatssekretär – der Sport verankert und gefördert. Für Heimat offensichtlich nicht, das bleibt bei Ländern und Kommunen. Traditionell kümmert sich das Innenministerium eher um die nationale und internationale Reputation des deutschen Sports. Wenn man dessen Organisationsbasis betrachtet, ist die keineswegs heimatlos.
Mehr als 90.000 Turn- und Sportvereine sorgen dafür, dass praktisch in jedem ländlichen Flecken und in jedem Stadtteil Deutschlands ein selbstorganisiertes Bewegungsangebot besteht, dass kindlicher Bewegungslust Raum gibt, Jugendlichen Werte des fairen Zusammenlebens vermittelt, Erwachsenen gesundheitsfördernde Geselligkeit ermöglicht und Älteren Mobilität und Moral erhält. Hier haben Menschen Blickkontakt, sprechen unverhüllt im Waschraum miteinander, planen Fahrten und Feste. Es gibt das Heimspiel und das Vereinsheim, Fans aller Couleur und Konfession besingen auf den Tribünen inbrünstig ihre Heimatstadt. Vereine gehören zur Heimat der Menschen, für manche sind sie inmitten zahlreicher Patchworkfamilien und digitaler Kommunikation vielleicht die wichtigste Verheimatungsinstanz.
Das gilt auch und gerade für Menschen, die einst ihre Heimat ganz woanders hatten. Sie finden in Sportvereinen schnell Anschluss, denn Regelwerk, Werte und Sprache des Sports versteht man überall – jeder hat die vielfältige Welt des Sports auf seinem Smartphone, kennt seine Muster, Mühen und Möglichkeiten. Sport im Verein ist nicht nur lokal, auch europäisch-global. Da gibt es in diversen Sportarten europäische Verbände und Europameisterschaften, aktuell die Champions Leagues und die europäisch-olympischen Jugendfestivals, eine europäische olympische Akademie, europäische Sportkongresse und Fördermittel. Es sind letztlich Athleten der Vereine, die Nationalmannschaften bilden und auf europäischer Ebene wetteifern. Olympische Spiele sind schließlich der Ort, wo sich die Jugend der Welt friedlich trifft.
Dass dies in einer hochkommerzialisierten Welt, wo der Spitzensport auch profitabler Teil der Unterhaltungsindustrie ist, mit Verwerfungen und Kollateralschäden verbunden ist, ist täglich zu registrieren. In professionellen Großstadtvereinen spielen selten Eingeborene. Das ändert nichts daran, dass der Sport als Ganzes zu einem einheitlichen Europa und einem globalen Fest beiträgt. Der Münsteraner Sportwissenschaftler Dieter Jütting analysiert das vielbändig als „global-lokale Sportkultur“.
Sie hat – anfangs von europäischen politischen Institutionen kaum beachtet und verstanden – nicht weniger zur europäischen Idee beigetragen als das Straßburger Parlament, die Brüsseler Behörden, der Euro oder die zahlreichen finanziellen Fördertitel. Denn auch das sollte man sich ins Gedächtnis rufen: Noch nie in den letzten tausend Jahren hat der Kontinent 70 lange Jahre ohne größere Kriege existiert, gemeinsam gültige Gesetze formuliert, mehr Wohlstand, Gesundheit und Bildung geboten. Dass es noch an sozialer Gerechtigkeit mangelt, liegt nicht am Sport und bleibt Aufgabe.
In wenigen Monaten wird der Sport in Vorarlberg, topografisch im Herzen Europas liegend, zeigen, was die lokal-kontinental-global verbundene Sportkultur ermöglicht. Dann findet dort die 16. Weltgymnaestrada statt – sie zelebriert auf allen Menschen frei zugänglichen Straßen und Plätzen die unendliche Leichtigkeit des Bewegt-Seins. Voraussichtlich 25.000 Menschen in vielleicht tausend Vereins- und Schulgruppen, angereist aus mehr als 60 Ländern, demonstrieren dann, was kreative Bewegungskultur vermag.
Unbehindert von normierten Regelheften sportlicher Wettkämpfe, unbemerkt von Medien und Markt, frei in Auswahl von Musik und Geräten, phantasievoll in Kleidung und Formen zeigen sich regional und national geprägte Bewegungskulturen in überraschenden Choreografien: Akrobatisch, artistisch, athletisch, clownesk, zirzensisch, burlesk, tänzerisch. Indisches Malakambh, deutsches Seilspringen, brasilianischer Capoeira, israelischer Volkstanz, russischer Breakdance, nahöstlicher Bauchtanz reihen sich mit vielen anderen zu endlosen Ideenketten. Die verbinden eine ganze Welt, wo jeder ein gutes Stück Heimat bietet. Nicht weit entfernt vom Wohnort des Heimatministers.
Autor: Prof. Hans-Jürgen Schulke, Foto: LSB NRW